Die Marktstraße in Oberhausen

Als ich ein Knabe war, lebte mein Opa Gustav in der Oberhausener Marktstraße. Meine Mutter verband unsere Besuche bei ihm gern mit einem Abstecher in die kleinen und großen Geschäfte dieser pulsierenden Einkaufsmeile. Mit der Schließung der Zechen und Stahlwerke schwand die Kaufkraft der Stadt, und vor zwei Jahrzehnten wurde auf einer Industriebrache, weit weg vom Stadtzentrum, ein XXL-Einkaufstempel eröffnet, das Centro. Seither wird die Marktstraße gern mit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Agonie assoziiert.

Im Literaturhaus Oberhausen, ansässig in der Marktstraße, wurde im letzten Jahr die Idee geboren, den Schriftsteller Ralph Hammerthaler einzuladen, für einen Monat die Marktstraße zu erkunden. Hammerthaler ist ein Bayer, der in Berlin lebt. Ein externer Blick war somit garantiert. Nun liegt das Ergebnis vor. Ein Buch, das kein Reiseführer ist, sondern das Leben von Menschen offenbart. Der Autor lässt Händler, Handwerker, Gastronomen zu Wort kommen. Und so lesen wir, besser: hören wir Monologe, die jedoch nicht monologisieren. Schnell staunt man über die große Zahl kleiner Geschichten, die in den Berichten aufleuchten. Als ein Uhrmachermeister, der auch Luxusuhren verkauft, vor 18 Jahren seinen Laden eröffnete, rieten ihm viele von diesem Standort ab. „Aber für mich als Oberhausener kam es gar nicht in Frage, woanders hinzugehen.“ Auch der Dönermann schwört auf seine Stadt: „Ich fühl mich wirklich sehr wohl hier. Ich bin ja von Düsseldorf hergezogen, darum kenn ich den Unterschied.“ Liebevoll erklärt er sein Oberhausen so: „Zweihunderttausend Einwohner, aber du musst dir ein Dorf vorstellen.“ Der Inhaber eines gehobenen Lokals beklagt: „Leider scheinen die Verantwortlichen der Stadt die obere Marktstraße vergessen zu haben. In den Häusern gegenüber wohnen fast nur Asylbewerber – was soll ich da erwarten? Okay, das sind Menschen, die wir lieben, denen wir helfen wollen, aber es müsste einen Plan für die Zukunft geben.“

Kontaktaufnahme ist für den Autor kein Problem, er ist ja im Ruhrgebiet. Wie bei einer älteren Dame im Café: „Nicht im Mindesten ist sie erstaunt über meine Neugier. Im Gegenteil, sie lässt mich ohne Scheu in ihr Leben blicken.“ Stumm bleiben einzig die Befehlsempfänger in den Filialen der großen Ketten. Auch Thalia, angeblich eine Buchhandlung, spricht nicht mit dem Schriftsteller. Hammerthaler: „Mit der einzelnen Stadt wollen sie nichts zu tun haben. Durch diese Ignoranz büßt das innerstädtische Leben einen Teil seines Potentials ein.“ Das Engagement kommt aus der Bürgerschaft. Der Inhaber einer kleinen Traditionsdruckerei erklärt: „Nichts ist schlimmer als leerstehende Geschäfte und Gebäude. Wie in der Marktstraße. Dagegen versuchen wir etwas zu tun.“

Durch Hammerthalers Buch lernen wir die Marktstraße als einen Ort kennen, in dem Menschen trotz verblichener Quartiersbeschaffenheit ihr selbstbestimmtes Leben führen. Fern ab von mächtigen Worten wie Investorensuche oder Marketingstrategie handeln sie intuitiv und tun dabei genau das, was für sie emotional richtig ist. So gedeihen, trotz reichlich Alltagssorgen, auch persönliche Zufriedenheit und ein wirksames Miteinander. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte die Marktstraße „zwei Kilometer Trostlosigkeit“ und prophezeite, dass sie nach dem Erscheinen des Buches noch die gleiche sein werde, „aber sie könnte mit anderen Augen gesehen werden“. Das wird der Fall sein, und möglicherweise werden sich auswärtige Leser fragen, wie viel Marktstraßen-Leben eigentlich in ihrer Stadt zu finden ist. Und nun Obacht! Notieren Sie sich den 19. April, dann lädt das Theater Oberhausen zu einem Rundgang durch die Marktstraße, um Ralph Hammerthalers Texte vorort zu präsentieren. Um 21 Uhr gehts los. Das lasse ich mir natürlich nicht entgehen.

—> Ralph Hammerthaler: Marktstraße, Hrsg.: Literaturhaus Oberhausen


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