Horst erklärt die Welt

Horst ist Rentner. Jeden Tag schaut er mit seinem Nachbarn Rudi stundenlang aus dem Fenster eines Bäckerei-Cafés und erklärt die Welt. Ich sitze am Nebentisch und lausche ebenso unbeabsichtigt wie fasziniert seinen lebensweisen Kommentaren.

„Da ist eine mit drei Kinder. Und noch eins im Bauch. Das ist doch nicht normal sowas.“ Schweigen. „In Deutschland gibt es keinen guten Kuchen mehr. Früher war der besser.“ Schweigen. „Die tun mir immer Reklame in den Briefkasten. Da steht: ‚Keine Werbung‘, aber immer ist da was drin.“ Sehr langes Schweigen. „Tätowierte Frauen. Für sowas haben die Geld. Die sollen sich mal besser um ihre Kinder kümmern.“ Schweigen. „Der da lebt auch nur vom Kindergeld. Früher gab es kein Kindergeld.“ Schweigen. „Heute soll es regnen. Morgen auch.“

Mit letzter Kraft gelingt es mir, mich dem Horst-Bann zu entreißen. Ich fliehe nach draußen und atme tief durch. Im Café drohte meine Lebenszeit, akut wegzuschmelzen. Nun sammle ich neue Kraft. Horst und Rudi aber gehören zur Gattung der Unsterblichen.

Anmerkung: Der Bericht stammt natürlich aus meinem Erlebnisarchiv, also aus Vorcoronazeiten.


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