Meine erste Single

Meine erste Single kaufte ich mit 13 Jahren. Das war im Januar 1967. Ich lebte in Dinslaken, einer damals arg verschnarchten Kleinstadt an der Grenznaht zwischen Niederrhein und Ruhrgebiet. Schallplatten kaufte man hier entweder bei Hertie, einem nagelneuen Kaufhaus am Neutorplatz, oder beim alteingesessenen Radio Bohlen in der Neustraße. Ich ging zu Radio Bohlen. Hier empfing die Schallplattenkunden ein moderner Verkaufstresen, an dem mehrere Verkäuferinnen gleichzeitig bedienten. Ich trug meinen Einkaufswunsch vor: die neueste Single der Rolling Stones, Titel: „Let’s Spend the Night Together“. Doch oh weh, die war leider schon vergriffen. Aber die Verkäuferin zeigte mir sogleich die Vorgänger-Single der Rolling Stones, gerade mal ein halbes Jahr alt, Titel: „Have You Seen Your Mother, Baby, Standing in the Shadow?“ Von dieser Platte hatte ich noch nicht gehört. Ich war unschlüssig. Daher fragte mich die Verkäuferin, ob ich mir die Platte anhören wollte. Ich wollte. Sie legte die Platte auf ihrer Seite des Tresens auf den Teller eines Plattenspielers und ich zog an meiner Seite des Tresens einen Handlautsprecher mit langem Kabel aus der Halterung und drückte ihn wie ein Telefon an mein Ohr. Sofort drangen die wilden Töne der Rolling Stones in mein Hirn. Gitarren, Schlagzeug, Gesang – ein ekstatischer Klangbrei, der Großes versprach. Nach wenigen Minuten war die Platte durchgelaufen. Ich erklärte meine Kaufbereitschaft und zahlte fünf Mark. Glücklich trug ich die erste Single meines Lebens nach Hause.

Wenige Tage später hatten wir Besuch. Oma, Opa, Onkel, Tante und Cousin Eckhard waren zu Gast. Im launigen Geplauder des Nachmittags verriet mein Vater den Gästen, dass ich mir „so eine komische Schallplatte gekauft“ hätte. Schmunzelnd forderte er mich auf, die Platte für alle abzuspielen. Mit gemischten Gefühlen legte ich die Scheibe auf, und schon schrie Mick Jagger in unser Wohnzimmer: „Have you seen your mother, baby, standing in the shadow?“ Dabei saß ich auf dem Boden vor dem Plattenspieler, die familiäre Gesellschaft schaute vom Wohnzimmertisch zu mir herunter. Sie schwieg. Bald kamen die ersten Kommentare. Die Musik sei so seltsam undeutlich. Man könne die einzelnen Instrumente gar nicht richtig auseinanderhalten. Und überhaupt sei das ja alles in Englisch. Schließlich lautete der kollektive Bescheid: Mit der Aufnahme sei wohl technisch was nicht in Ordnung.

Dann war die Musik verklungen, ich schob die Platte wieder in die Hülle und die Alten wandten sich anderen Themen zu. Cousin Eckhard stand vom Tisch auf und setzte sich zu mir auf den Boden. Mit leuchtenden Augen und vorsichtig flüsternd sagte er nur zwei Worte: „Klasse Platte.“ Mehr war nicht nötig, denn wir waren Brüder im Geiste, unendlich weit entfernt von der Elterngeneration.

—> Dieser Text entstand durch freundliche Anstiftung der Ludwiggalerie in Oberhausen


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