Lothar ist schwerbehindert

Lothar ist Rentner und lebt in Dinslaken. Als er drei Jahre alt war, erkrankte er an Masern. Daraus entwickelte sich eine Hirnhautentzündung, die erhebliche spastische Lähmungen seiner rechten Körperhälfte verursachte. Erst im Alter von 10 Jahren wurde er eingeschult. An der Pestalozzi-Schule, heute Gartenschule, begann das Martyrium.

Lothars rechter Arm flog unkontrolliert umher und sein stark gekrümmtes, krampfendes rechtes Bein zog er mit Mühe nach. Treppen zu steigen, fiel ihm besonders schwer. Stufe für Stufe musste er sich mit seinem gesunden Arm am Geländer hochziehen, ja -zerren. Trotzdem wiesen ihm die Lehrer einen Klassenraum im ersten Stock zu. Dort saß er nun unter 40 i-Dötzchen. Lothar war nicht nur altersbedingt größer als sie, sondern auch für sein Alter groß gewachsen. Auf dem Schulhof wurde er sofort zur Pausenattraktion. Einzelne Schüler hänselte ihn, lachend schubsten sie ihn herum. Wenn er versuchte, sich zu wehren, scharte sich ein gaffender Kreis von Schülern um das Schauspiel. Feixend skandierte man seinen Namen. Lothar litt sehr darunter, war sichtbar verzweifelt. Zwar schlug er nach den Schubsern, wollte sie abwehren. Aber er traf niemanden. Die Schubser waren schneller, was ihren Spaß noch befeuerte. Relevante Hilfe von Lehrern blieb aus. Schließlich wurde Lothar erneut von der Schulpflicht befreit. Später besuchte er mehrmals die Woche eine pensionierte Lehrerin in Walsum. Von ihr lernte er Lesen und Schreiben.

Mit 12 Jahren wurde Lothar ein Loch in den Stirnknochen getrieben. Auf diesem Weg konnten die Ärzte einen Schlaganfall in der rechten Körperseite provozieren, Ergebnis: Verringerung der Spastik. Mit 18 Jahren wurde Lothar berufstätig. Jeden Morgen um 7:20 Uhr holte ihn ein Bus ab, mit dem er und andere Behinderte nach Rees gebracht wurden. Dort hatte eine Behindertenwerkstatt eröffnet. Zehn Jahre lang saß Lothar an einer Bohrmaschine, mit der er Löcher in Metallteile für Stoßdämpfer bohrte. Als auch in Dinslaken eine Behindertenwerkstatt errichtet wurde, wechselte er dorthin. Vor acht Jahren wurde Lothar Rentner. Er war froh, nicht mehr Plastiktütchen mit Schrauben befüllen zu müssen.

Eine Frau fürs Leben hat Lothar nicht gefunden. Aber er hatte Eltern, die ihr ganzes Leben um ihren Sohn herum gestaltet haben. Beide sind inzwischen verstorben. Seither lebt Lothar allein. Mehrmals täglich kommen nette Pflegekräfte, die 15 Minuten für das Frühstück investieren dürfen oder 15 Minuten für das Abendbrot. Mit einem elektrischen Rolli fährt er seine Touren durch Dinslaken. Dann trinkt er sich ein Käffchen im Straßencafé, raucht dazu ein Kippchen und freut sich, wenn er bekannte Gesichter trifft. Anschließend kauft er in Läden ein, die mit seinem Rolli vereinbar sind. Der nette Kiosk in der Duisburger Straße zählt auf jeden Fall dazu.

Gestern ist Lothar 66 Jahre alt geworden. Ich war der einzige Geburtstagsgast. Er hatte leckeren Kuchen für uns besorgt. Bei fröhlichem Kaffeedurst plauderten wir über die Veränderungen in seiner Straße und in seiner Stadt. Abends haben wir ein paar Bierchen getrunken und dazu eine interessante DVD über den Niederrhein geschaut. Die Nacht verbrachte ich im Bett seiner Eltern. Nach dem Frühstück habe ich mich für die Gastfreundschaft bedankt und bin mit meinem Fahrrad weitergefahren. Auf der Emscherbrücke, die gerade mal 300 Meter von Lothars Haus entfernt ist, habe ich angehalten und dem Fluss sehr lange dabei zugeschaut, wie er fließt und fließt und fließt.


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